Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen verstehen
Wenn Jugendliche sich selbst verletzen, stellt das Eltern vor große Herausforderungen. Sie fühlen sich oft hilflos, besorgt und wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Selbstverletzendes Verhalten (SVV) tritt häufiger auf, als viele denken – Studien zufolge haben etwa 15–20 % der Jugendlichen mindestens einmal im Leben selbstverletzendes Verhalten gezeigt. Doch was steckt dahinter? Wann ist es ein Warnsignal für eine ernstere psychische Erkrankung? Und wie können Eltern helfen?
In diesem Ratgeber erhalten Sie fundierte Informationen zu den Ursachen, Warnsignalen und Hilfsangeboten bei selbstverletzendem Verhalten.
Was ist selbstverletzendes Verhalten?
Definition und Abgrenzung
Selbstverletzendes Verhalten (SVV) bezeichnet Handlungen, bei denen sich Jugendliche bewusst und wiederholt Verletzungen zufügen, ohne eine suizidale Absicht. Typische Formen sind:
- Schneiden (Cutting)
- Ritzen
- Sich selbst schlagen oder kneifen
- Verbrennen der Haut
- Kratzen oder Wunden aufkratzen
SVV ist von suizidalem Verhalten abzugrenzen, kann jedoch mit einem erhöhten Suizidrisiko einhergehen.
Warum verletzen sich Jugendliche selbst?
Die Gründe für SVV sind vielschichtig. Oft dient es als Bewältigungsstrategie für emotionale Belastungen, Stress oder psychische Erkrankungen. Häufige Ursachen sind:
- Emotionale Regulation: Jugendliche empfinden innere Anspannung, Angst oder Wut und nutzen Selbstverletzung, um sich kurzfristig zu entlasten.
- Selbstbestrafung: Schuld- und Schamgefühle können dazu führen, dass Jugendliche sich selbst verletzen.
- Einfluss durch soziale Medien: Online-Communitys und Social-Media-Trends können selbstverletzendes Verhalten verstärken.
- Psychische Erkrankungen: SVV tritt häufig in Verbindung mit Depressionen, Angststörungen, Borderline-Persönlichkeitsstörung oder Essstörungen auf.
Warnsignale für selbstverletzendes Verhalten
Eltern erkennen SVV oft erst spät, da Jugendliche ihre Verletzungen verbergen. Dennoch gibt es Warnsignale:
Physische Anzeichen
- Schnitt-, Kratz- oder Brandwunden an Armen, Beinen oder Bauch
- Häufiges Tragen von langärmliger Kleidung, auch bei warmem Wetter
- Wiederkehrende Narben oder Wunden, die sich nicht durch Unfälle erklären lassen
Emotionale und Verhaltensauffälligkeiten
- Stimmungsschwankungen, erhöhte Reizbarkeit oder Rückzug
- Geheimniskrämerei, insbesondere im Zusammenhang mit Gegenständen wie Rasierklingen oder Scherben
- Verstecken von Verbandsmaterialien oder häufige Selbstversorgung kleiner Wunden
Soziale Veränderungen
- Rückzug aus Freundeskreisen oder familiären Aktivitäten
- Veränderungen in der schulischen Leistung
- Vermehrtes Interesse an Themen wie Schmerz oder Tod in sozialen Medien oder Tagebüchern
Falls Sie eines oder mehrere dieser Anzeichen bemerken, sollten Sie aufmerksam bleiben und das Gespräch mit Ihrem Kind suchen.
Wie Eltern reagieren können
Ruhig bleiben und nicht mit Schuldgefühlen reagieren
Viele Eltern erschrecken, wenn sie Selbstverletzungen bei ihrem Kind entdecken. Es ist wichtig, nicht mit Wut, Bestrafung oder Vorwürfen zu reagieren. Versuchen Sie stattdessen, Ruhe zu bewahren und mit Verständnis zu handeln.
Offenes Gespräch suchen
- Wählen Sie einen ruhigen Moment, um mit Ihrem Kind zu sprechen.
- Zeigen Sie Interesse an seinen Gefühlen, ohne zu urteilen.
- Vermeiden Sie Fragen wie „Warum machst du das?“ – sie können Schuldgefühle verstärken. Stattdessen helfen offene Fragen wie:
- „Wie fühlst du dich in letzter Zeit?“
- „Gibt es etwas, das dich belastet?“
Fachliche Hilfe in Anspruch nehmen
Wenn SVV regelmäßig auftritt oder mit anderen psychischen Problemen einhergeht, ist professionelle Unterstützung wichtig. Ansprechpartner können sein:
- Kinder- und Jugendpsychiater:innen
- Psychotherapeut:innen
- Schulpsycholog:innen
Psychotherapie, insbesondere kognitive Verhaltenstherapie (CBT), hat sich als sehr wirksam erwiesen. In schwereren Fällen kann eine stationäre Behandlung notwendig sein.
Schutzmaßnahmen ergreifen
- Entfernen Sie gefährliche Gegenstände (Rasierklingen, Scherben etc.), aber ohne Kontrolle auszuüben.
- Unterstützen Sie Ihr Kind dabei, alternative Bewältigungsstrategien zu entwickeln (z. B. Sport, kreative Aktivitäten).
Eigene Grenzen erkennen
Eltern sollten sich nicht allein verantwortlich fühlen. Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen bieten Unterstützung für betroffene Familien.
Langfristige Strategien: Umgang mit selbstverletzendem Verhalten
Alternativen zur Selbstverletzung
Jugendliche können lernen, Emotionen auf gesündere Weise zu regulieren. Alternativen zu SVV können sein:
- Kälte- oder Druckreize (z. B. Eiswürfel in der Hand halten)
- Malen oder Schreiben als Ausdrucksmöglichkeit
- Sportliche Aktivitäten zur Stressbewältigung
Präventive Maßnahmen
- Förderung von Selbstwertgefühl und Resilienz
- Kommunikation auf Augenhöhe
- Bewusstes Vorleben von gesundem Umgang mit Stress
Wann ist professionelle Hilfe notwendig?
Eltern sollten sich Unterstützung holen, wenn:
- Selbstverletzungen regelmäßig oder intensiv auftreten
- Weitere psychische Symptome wie Depressionen oder Suizidgedanken hinzukommen
- Das Kind nicht über seine Gefühle sprechen kann oder will
Eine erste Anlaufstelle kann der Kinderarzt oder ein Kinder- und Jugendpsychiater sein.
Fazit
Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen ist ein ernstzunehmendes Signal für emotionale Belastung oder psychische Erkrankungen. Eltern sollten empathisch reagieren, offene Gespräche suchen und professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen. Mit Geduld und fachlicher Hilfe können betroffene Jugendliche lernen, gesündere Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
Wenn Sie sich unsicher fühlen oder Fragen haben, zögern Sie nicht, professionelle Beratung in Anspruch zu nehmen. Sie sind nicht allein – es gibt Hilfe für Sie und Ihr Kind.
Weiterführende Links und Hilfsangebote
- Nummer gegen Kummer (kostenlose Beratung für Kinder & Eltern): www.nummergegenkummer.de
- Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS): www.suizidprophylaxe.de
- Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): www.bzga.de
- Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie: www.dgkjp.de